Buch des Monats Februar 2019
Francesca Melandri: Alle außer mir
Eines Tages in 2010 steht bei Ilaria Profeti ein Junge vor der Tür und behauptet, er sei ihr Neffe, der Sohn eines Bruders, von dem Ilaria, Mittvierzigerin und engagierte Lehrerin in Rom, nichts wusste. Was zu ihrer Verwirrung beiträgt: Der abgerissene junge Mann ist so dunkelhäutig, wie jemand aus Äthiopien nur sein kann. Ganz eindeutig ist er ein Geflüchteter, noch dazu ein „Illegaler“. Doch er spricht perfekt Italienisch, und er hat einen Pass – auf den Namen Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti lautend. Und Attilio, genannt „Attila“ Profeti heißt immerhin Ilarias Vater. Ilaria weiß zwar, dass ihr Vater in den Dreißigerjahren in Äthiopien war, aber von einem afrikanischen Halbbruder haben weder sie noch ihre anderen Geschwister je gehört. Da stellen sich neue Fragen, und der Vater kann sie wegen seiner Demenz
nicht mehr beantworten. Der junge Äthiopier konfrontiert die Lehrerin mit der Vergangenheit ihres Vaters, die sehr viel enger mit den politischen Brüchen und Abgründen Italiens verknüpft ist, als sie es je geahnt hätte.
Vor dem Hintergrund eines verdrängten Kapitels der italienischen Zeitgeschichte entwickelt Francesca Melandri in „Alle, außer mir“ eine Familien- bzw. Generationengeschichte. Sie nimmt Imperialismus, Rassismus und Faschismus ebenso aufs Korn wie Heuchelei und Korruption, Ignoranz und Verdrängung. Dabei nimmt sie in dem Roman die letzten 120 Jahre italienischer Geschichte in den Blick, die Verwicklungen zwischen Libyen und Italien unter Berlusconi kommen ebenso vor wie Mussolinis äthiopischer Eroberungskrieg mit Giftgas von 1935.
All diese Geschichten verwebt Melandri in verschiedene Zeitebenen. Die eine spielt 2010, genau an den vier Tagen, an denen Berlusconi den Diktator Muammar al-Gaddafi empfing. Vier Tage, die mit einem Handkuss Berlusconis begannen und ganz Rom in Aufruhr brachten. Die zweite siedelt Melandri im Faschismus ab 1935 an, als Italien – unter anderem – Äthiopien kolonialisierte und den Abessinienkrieg führte. Melandri vollbringt das Kunststück, durch ihren zugleich nüchternen und doch auch lebhaften Erzählstil die familiären Zwistigkeiten im Hause Profeti ebenso wie die historischen Ereignisse der verschiedenen Epochen detailreich und spannend zu schildern.
Münster, im Februar 2019 Angela Tieben